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Evangelisches Studienwerk Villigst: Digitale Transformationen demokratischer Öffentlichkeit: Probleme und Potentiale

Sowohl die Struktur demokratischer Öffentlichkeit wie auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist, unterliegen einem Wandel. Digitalisierungsprozesse verändern Kommunikationsformen; technischer Fortschritt insgesamt das Verhältnis zur Natur. Der Kurs fragt von beiden Seiten nach spezifischen Problemen und Potentialen – mit einem Schwerpunkt darauf, unter welchen Bedingungen die gesellschaftliche Lösung komplexer Probleme (wie der ökologischen Krise) prinzipiell gelingen kann.

Öffentlichkeit ist für die Selbstbeschreibung demokratischer Gesellschaften seit jeher eine zentrale Kategorie: in ihr können sich Bürger*innen begegnen, miteinander diskutieren und eine Meinung bilden. Insbesondere politische Diskussionen dienen in Demokratien der Koordinierung von gesellschaftlichen Problemen: Was ist eigentlich das Problem (d.h., wo liegen die Hemmnisse und Herausforderungen von Lebensformen), und was könnte getan werden, um es zu adressieren? 
Der Ausgangspunkt des Kurses ist die doppelte Beobachtung, dass beides – sowohl die Struktur demokratischer Öffentlichkeit wie auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert ist – einem weiter zu analysierenden Wandel unterliegt. Von beiden Seiten stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Lösung komplexer Probleme (wie etwa der ökologischen Krise) gelingen kann.

Zunächst zur Digitalisierung: Sie meint in diesem Zusammenhang nicht nur neue Verwaltungs- oder Abstimmungsverfahren. Vielmehr verändert sich mit ihr die Struktur von Öffentlichkeit selbst (bereits „Facebook“ oder „Twitter“ funktionieren ganz anders als etwa eine Tageszeitung); sogar die überlieferte Unterscheidung zwischen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ scheint an Kontur zu verlieren.
Digitale Transformationen der Öffentlichkeit bezeichnen in dieser Hinsicht Umbrüche im Kern, in der Herzkammer liberaler Demokratien. Nach einer Phase, in der die Potentiale digitaler Kommunikationsformen für demokratische Gesellschaften betont wurden, lag der theoretische Fokus dabei zuletzt eher auf den Risiken und Problemen, die mit ihnen einhergehen: Phänomene wie „Shamestorms“, Online-„Trolle“ oder sogenannte „Wahlbots“ scheinen die Möglichkeit zur freien Meinungsbildung eher einzuschränken als auszuweiten – und damit auch die Problemlösungsfähigkeit demokratischer Diskurse zu gefährden.

Im Kontext des „Anthropozäns“ ändern sich auf der anderen Seite ebenfalls die Problemstrukturen, mit denen es demokratische Öffentlichkeiten zu tun haben. Existentielle Risiken wie der Klimawandel bedrohen das Überleben der gesamten Spezies, während sie gleichzeitig nach einer erfolgreichen „Lösung“ in einem bestimmten Zeitkorridor verlangen. Solche Probleme warten gewissermaßen nicht darauf, angegangen zu werden. Der Anspruch an ihre Koordinierung durch demokratische Deliberation wird insofern noch größer. Vor seinem Hintergrund müssen kommunikative Verwerfungen wie Wissenschaftsskepsis oder Verschwörungstheorien umso alarmierender erscheinen; und es stellt sich die Frage, ob der Übergang zu digital vermittelten Diskussionsprozessen (also digitale Transformationen der Öffentlichkeit i.e.S.) eigentlich ausreicht, um sie zu erklären.

Im Kurs werden wir beide Linien – der Öffentlichkeit und ihrer Probleme – verfolgen, und in einem dritten Schritt tentativ als Anforderungsprofile demokratischen Handelns reformulieren – d.h. wie eine öffentliche Diskussion theoretisch verfasst sein müsste, um prinzipiell auf Herausforderungen wie den Klimawandel reagieren zu können. In dieser dritten Sektion wird es also auch darum gehen, eine Perspektive auf die spezifischen Probleme mit einer Perspektive auf die theoretischen Potentiale demokratischer Öffentlichkeit zu verbinden: Welchen Beitrag kann, soll oder muss demokratischer Diskurs zur Lösung der Probleme des 21. Jahrhunderts leisten?

Weitere Informationen und Seminarleitung

Seminarleitung

Jan-Philipp Kruse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Dresden. Er forscht auf den Feldern Sozialphilosophie, Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Ästhetische Theorie und entlang transdisziplinärer Perspektivbildungen zu Schlüsselaspekten gesellschaftlicher Transformation – darunter konzeptionelle Fragen der Normativität und des Urteil(en)s, ökologische Theorie sowie der neue, digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit. Die Monografie Semantische Krisen (i. E.) setzt sich mit dem Zusammenhang von gesellschaftlicher Selbstverständigung und dem koordinierten Lösen von Problemen auseinander.